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Er zog in Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte im Volke alle Krankheiten und Leiden (Mt 4,23).
Ein landläufiger Kommentar zum Wanderprediger aus Nazaret. Sein Programm: Reich-Gottes-Botschaft und -Praxis. Mitte des Evangeliums. Zentrale Bitte des Vaterunsers: Dein Reich komme!
Über Jahrtausende waren ideale Vorstellungen von Königtum, Königreich, Königsherrschaft und königlichem Hochzeitsmahl Bilder des großen Glücks und eines wunderbaren Lebens in Fülle.
Solche Visionen berühren nur sehr selten Lebenswelten, in der "der Kunde König ist". Schon Paulus warnte die Römer vor gewissen Missverständnissen: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken; es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist (14,17).
Auf den Arbeits-, Lebens- und Spielfeldern unserer Gesellschaft wird die Botschaft vom Reich Gottes kaum noch als Sinn- und Erfüllungsperspektive empfunden, wenn uns ihr Wärmestrom nicht erreicht.
Spröde, sehr vage und unkonkret. Feierliche Rede, Predigt aus der Spätantike, aus altbiblischer Zeit.
Politik und Wirtschaft sind zuständig für Friede und Gerechtigkeit. Dass Gott "mit den Welthandelspreisen zu tun hat" (Johann Baptist Metz), ist heute nicht einsichtig. Reines Menschenwerk! "Und alle Krankheiten und Leiden im Volke" sind Sache von Ärzten und Therapeuten. Ob im Namen des Herrn oder ungläubig! Gläubige Aktivisten sehen sich gern als "Mitarbeiter" des Reiches Gottes und überschätzen ihren Anteil. Bitten sie doch täglich, dass Sein Reich komme, denn "Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit!"
Missverständnisse gab es schon im Umfeld Jesu. Bei Johannes antwortet er auf eine Frage des Pilatus: Ja, ich bin ein König, doch mein Königtum ist nicht von dieser Welt (18,33-37). Jesus – das Gegenmodell! Nicht wie wir König, sondern nach Gottes Art.
Sein ist das Reich, nicht mein, nicht von dieser Welt, aber doch für diese und in dieser Welt, wie unsere Standardformeln lauten. Das Evangelium besteht darauf, dass wir Missionserfolge nicht für uns verbuchen (Lk 10,17-20). Der Satz "Ich habe keine anderen Hände als die euren" ist eine Irrlehre. Sie stellt Gottes Souveränität infrage. Gottes Herrschaft und Reich sind allein Gottes Sache. Seine Gerechtigkeit und sein Friede sind nicht das, was wir leisten oder uns nur vorstellen könnten.
Der Appell Jesu richtet sich an unsere Gottesbereitschaft: Tut alles, um in dieses Reich zu gelangen, betet darum, dass es kommt: Es muss zuerst um das Reich Gottes und um seine Gerechtigkeit gehen (Mt 6,33). Sich zuerst Gott öffnen, dann werden wir selbst frei und offen für andere.
Nicht so unsere Alltagsprioritäten: Zuerst geht es um uns. Gott nimmt auch bei Christen nicht den ersten Rang ein, müssen wir kleinlaut feststellen. Augenblicklich scheint er an verbindlicher Kontur zu verlieren. Die Person Jesu und seine Botschaft sind nicht das Maß aller Dinge, wenn Gott zu einem Alles und Nichts kosmisch aufgelöst und globalisiert wird.
Zuerst das Reich, zuerst Gott, zuerst sein "Königtum"? Gottes Herrsein anerkennen und sich seiner Wirkmacht überlassen?
"Gott ist mein König von alters her" (Ps 74,12). Gott ein König? Können wir noch so sprechen? König – ein altes Bildwort wie Hirte oder Schöpfer – leer, negativ besetzt oder vergoldet.
Könige und Königinnen haben in Demokratien nur noch Unterhaltungs- und Vermarktungswert: Nostalgische Tradition oder "Operette nach Wunsch". Großer Bühnen- und Filmstoff. Symbolfiguren bedienen unsere Sehnsüchte nach Größe, Ansehen und Reichtum: Glanz von Gestern, von Monarchien und Reichsideen, denen wir nicht nachweinen.
Ist das Bild vom Reich Gottes nur ein altes Codewort für unerreichbare Träume, eine Zielvorgabe für einen Weg zum Glück, "dem gläubigen Menschen ins Herz gelegt"?
Für Jesus war es ein realer Weg. Aber schon die Aufnahme und das Hören der Botschaft waren gefährdet und bedroht, wie das Sämannsgleichnis hervorhebt (Mk 4,13-19). Die generelle Aussage, wie es sich mit dem Reiche Gottes verhält, lautet:
- es ist verborgen, aber es wächst - auch ohne uns,
- es findet keine allgemeine (flächendeckende) Aufnahme,
- es wird mit Sicherheit kommen und glorreich in Erscheinung treten.
Für Jesus und seine jüdischen Zuhörer hatte das Wort vom Reich noch eine messianische Klangfarbe. Jerusalem sollte einmal der sichtbar strahlende Herrschaftsraum Jahwes werden, in dem seine Macht und Gerechtigkeit endgültig zum Zuge kommen (Jes 2,1). Anders als bisher und nicht wie bei den Königen ringsum "von dieser Welt".
Dieses alte Gottesversprechen wollte Jesus mit seiner Person und seinem Wirken wahr werden lassen. Gottes Herrsein als Macht der Liebe: Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt. Darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt. Ich baue dich wieder auf, du sollst neu gebaut werden (Jer 31,3).
Für dieses Programm stand Jesus. Er beteuerte schon am Anfang seiner öffentlichen Sendung: Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium (Mk 1,14). Er sah sich als Repräsentanten der Macht Gottes und trat auf "wie einer der göttliche Vollmacht hat" (1,22). Er demonstrierte Gottes Herrsein über die Mächte, unter denen Menschen leiden: Krankheiten, Sünde und Tod. Er rief zu neuem Vertrauen auf zu dem Gott , von dem seine jüdischen Mitbürger ja wussten: Er ist unser Halt. Er führt in die Weite und macht unsere Finsternis hell (Ps 18).
Das durften Einzelne bei Jesus erleben: Entrechtete, Gestrauchelte, Besessene. Er holte die vom Rande in die Mitte, heilte Kranke und vergab Sünden in Gottes Namen. Er sah sein Reden und Tun als Reich-Gottes-Praxis: Die Menschen neu an Gott binden und von den Mächten befreien, die ihnen zu schaffen machten, weil sie Leben verhinderten.
Er sah sich als Repräsentanten der zuvorkommenden Liebe Gottes. Menschen erlebten ihn als Kraftfeld des Himmels und Raum der göttlichen Gnade.
Den Jüngern vertraute er das "Geheimnis des Reiches Gottes an" (Mk 4,11). Und er muss schon früh gespürt haben, dass harte Herzen sich seiner Botschaft verweigerten und "die Zeit der Gnade", die "Heilszeit", damals nicht erkannten. Sein Weg zum Kreuz war auch ein Prozess wachsender persönlicher Desillusionierung. Sein Blick richtete sich mehr und mehr in die Zukunft. Die Vaterunserbitte "Dein Reich komme" bekommt diesen Akzent.
Im Johannesevangelium wandelt sich die Vorstellung vom Reich Gottes zur Verheißung ewigen Lebens. Auch für Jesus hatte sich die Perspektive immer mehr verschoben: Amen, ich sage euch, ich werde es (das Paschamahl) nicht mehr essen, bis es erfüllt sein wird im Reich Gottes (Lk 22,16).
Hier spricht Jesus von seiner eigenen Zukunft und preist die, "die einmal im Reiche Gottes mit ihm zu Tische sitzen werden" ( Lk 22,30). Das himmlische Hochzeitsmahl als Bild ewiger Heilsfülle. Oder bei Johannes: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlickeit Gottes sehen (Joh 11,40). Visonen unendlichen Glücks, wo und wenn "Sein Reich kommt".
Auf den strahlenden Lebensbühnen dieser Welt, dem Reich der Käufer und Konsumenten, kommt uns anderer Glanz entgegen. Die Botschaft vom Reich Gottes klingt nach wie vor fremd und seltsam im Kaufhaus, im Bus oder Stadion, in Betrieb oder Schule. Wer fiebert hier schon der Ewigkeit entgegen?
Mit der Bitte um das Kommen des Reiches beten wir darum, an Gottes machtvollem und ewigen Leben teilzuhaben. Und nach den Evangelien kommt es uns schon jetzt im irdischen Leben verhüllt und senfkornartig in den Zeichen und Worten, Menschen und Ereignissen entgegen, in denen Jesus seine Gegenwart verheißen hat.
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Text: Dr. Hermann-Josef Silberberg
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben